"Alles könnte anders sein" oder: Normalität in Zeiten ihrer Abwesenheit

"Alles könnte anders sein" so lautet der Titel eines noch nicht so alten Buches von Harald Welzer. Eine Inhaltsangabe sparen wir uns, denn selber Lesen lohnt sich. Aber eines, was dieser Titel nämlich aussagt, ist uns in den vergangenen 12 Monaten sicherlich klar geworden: Alles könnte nicht nur, eventuell, ganz selten, manchmal, in außergewöhnlichen Situationen oder irgendwann vielleicht einmal ... usw. anders sein, sondern, alles ist momentan anders und wird es auch immer öfter werden. Was heißt das für unsere Befindlichkeit, unsere Lebensentwürfe, die vor uns liegen, oder denen wir schon seit Jahrzehnten gefolgt sind?


Zunächst einmal wird mit Corona quasi eine vermeintlich ontologische Konstante in Frage gestellt. Eine ontologische Konstante, ist all das, was mit einer Sache fest verknüpft ist. Eine ontologische Konstante von Materie, also eine Eigenschaft, die mit der Materie untrennbar verbunden ist, ist die Schwerkraft. Es gibt - soweit wir wissen - keine Materie ohne Schwerkraft, auch wenn diese bei kleinen Brocken kaum merklich ist. Eine weitere ontologische Konstante von Materie, ist, dass sie räumliche Ausdehnung hat, also Raum beansprucht. Man kann sich keinen noch so kleinen Materiekrümel ohne die drei Dimensionen des Raums vorstellen.


So, oder so ähnlich gehen wir nicht selten mit allen Bereichen der Wirklichkeit um. Wenn wir nur lange genug die Erfahrung gemacht haben, dass sich etwas so oder so verhält, dann gehen wir davon aus, dass dieses Verhalten oder diese Eigenschaft wohl untrennbar damit verbunden ist, also seinsmäßig (ontologisch) konstant ist. Dies gehört zu unseren mentalen Infrastrukturen. Und genau dabei hauen wir oft daneben. Denn so manches, woran wir uns gewöhnt haben, könnte eben (siehe oben) auch anders sein.


Dieser Irrtum, nämlich das Gewohnte als unabänderbar zu verstehen, ist es, der uns die Zeitläufte jetzt so schwer macht. Corona ist eine der größten Herausforderungen unserer mentalen Infrastrukturen seit dem zweiten Weltkrieg (wobei Corona für uns bei weitem nicht so schlimm ist). Warum ist das so? Eine der bekanntesten ontologischen Konstanten, die wir uns im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurechtgelegt haben, ist die der Kontinuität. Wenn wir eine Treppe betreten, gehen wir davon aus, dass nach der jetzigen Stufe eine weitere folgt und da keine Lücke ist. Solche Sicherheiten brauchen wir, sonst würden wir den Alltag gar nicht bewältigen und nach jedem Schritt unsicher vor uns hin tasten. Eine Katastrophe für die Alltagsbewältigung. Das gilt für alle Lebensbereiche. Und nun zeigt sich, dass diese Kontinuität auf gleich mehreren Ebenen unterbrochen wird. Eine zweite Konstante dieser Art ist der Lebensentwurf des immer mehr, immer besser, immer größer, kurz der Lebensentwurf, der auf dem vermeintlich unabänderbaren Wachstum basiert. Die vermeintliche ontologische Konstante des Wachstums, ein anderer Ausdruck für eine Gesellschaft der permanenten Aufwandserhöhung, ist ebenso etabliert, wie die der Kontinuität. Es ist im Kern die Meinung, es werde trotz einiger Veränderungen, alles so weitergehen. Man könne trotz Unterbrechungen wieder zur "Normalität" zurück.

 

Die normative Kraft des Faktischen, also die werteprägende Kraft dessen, was gerade der Fall ist, weicht also der normativen Kraft dessen, was wir für normal halten, was aber aktuell nicht der Fall ist. Das Normale, die Norm hat sich in unseren mentalen Infrastrukturen verselbständigt. Wenn aber das Normale gerade nicht wirklich ist, dann führt das Festhalten am (vergangenen) Normalen zum Wirklichkeitsverlust.


In der Zeitschrift "Futur Zwei" wird dieser Wirklichkeitsverlust mit Bezug auf auf die Bewegung der Wirklichkeitsverleugner (Querredner, Verschwörungserzähler usw.) als Austreten aus der Wirklichkeit (FuturZwei, Nr 16, 2021) diskutiert. Aber es sind bei weitem nicht nur irgendwelche abgedrehten Milieus, die aus der Wirklichkeit aussteigen, es sind auch jene, die nur eins im Sinne haben, nämlich, es ginge einfach wieder zurück in die coronabedingt suspendierte "Normalität". Beide Seiten haben jedoch angesichts von Diskontinuität und Unsicherheit keine wirklichen Lebensentwürfe zu bieten. Was nämlich den Phantasierern an Realitätsbezug fehlt, das fehlt den "Realisten" an Phantasie.


Was nun nötig ist, ist eine bewußte Auseinandersetzung mit Diskontinuitäten, mit dem Staunen angesichts all dessen, was nicht (mehr) selbstverständlich ist. Hier spielt die Entwicklungsfigur der Transformation ein große Rolle. Transformation ist nämlich nicht einfach nur Wandel oder Veränderung. Der Bildungsforscher Ortfried Schäffter hat dies einmal so skizziert: "Transformation bezeichnet eine besondere Qualität von Veränderungsprozessen, [...] T. bezieht sich daher nicht allein auf eine Kette möglicher Einzelveränderungen, sondern darüber hinaus auch auf den Wandel in der bisherigen Form dieser Veränderungen. T. liegt daher kategorial auf der Ebene von „Veränderungen zweiter Ordnung“. Im Zusammenhang mit strukturellem Wandel verweist sie begrifflich auf diskontinuierliche, oft krisenhaft erfahrene Übergänge zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen „Formationen“, Lebens-„Formen“ oder zwischen paradigmatisch erlebten Bedeutungshorizonten."

Hui, das klingt sehr theoretisch. Ist es auch. Aber man kann es in relativ einfach Sprache übersetzen. Transformation ist, wenn man in einem Veränderungsprozess noch keinen exakten Weg sehen kann, auf dem man sich im Zuge dieser Veränderung bewegen wird. Es ist wie das Bauen des Weges im Fortbewegungsprozess.

 

Transformatives Lernen ist die Form des Lernens, die jenseits ideologischer Vereinnahmungen eine Bearbeitung des Selbst- und Weltverhältnisses in Situationen der Diskontinuität ermöglicht. In allen Situationen, in denen die Gesellschaft kein geordnetes Übergangsmanagement bietet, und solche kommen immer öfter vor, ist transformatives Lernen die Mobilisierungsform, die einer ungewissen Realität am besten entspricht.
Wie aber lernt man dieses "Alles könnte anders sein"? Nun zunächst einmal dadurch, dass man sich eingesteht, dass alles ganz anders ist; und dann auf die Frage kommt: Anders als was? Was hatte ich denn erwartet, was jetzt nicht so ist? Und dann wird man sich die Emotionen eingestehen müssen, die damit verbunden sind (Schuld, Scham, Angst, Wut, Trauer usw.), anstatt gleich irgendeinem Heilsbringer hinterherzulaufen oder irgendwelchen Leuten, die vermeintliche Schuldige benennen oder versprechen, alles wieder geradezurücken. Und der nächste Schritt ist die Kommunikation unter denen, die die Irritation erleben und die sich darüber zunächst austauschen. Dieser Austausch ermöglicht jene kommunikative Realitätswahrnehmung, die trotz aller Diskontinuität und Disruption Wege aufzeigt in individuelle oder kollektive gangbare Lebensentwürfe. Und genau das ist es, was wir suchen: gangbare erstrebenswerte Lebensentwürfe, die sich zunächst als Prototypen eignen und in der Erprobung zu tragfähigen neuen Rollenbildern unserer selbst und neuen Bildern von der Welt, wie sie sein könnte, weiterentwickeln. Das ist lernende Arbeit an einer selbst mitgestalteten Realität.